Rachel Joyce – The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry
Wusstet ihr, dass „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“ ursprünglich ein Radio Hörspiel war? Rachel Joyce hat es für BBC Radio 4 geschrieben, in Gedenken an ihren Vater, der an Krebs litt und leider nicht lange genug lebte, um es zu hören. Später dann schrieb sie es zu einem vollwertigen Roman um. Dafür bin ich ihr sehr dankbar, denn hätte sie das nicht getan, wäre ich wohl nie in den Genuss dieser wundervollen Geschichte gekommen.
Harold Fry ist seit sechs Monaten pensioniert, aber maßgeblich verändert hat sich sein Leben dadurch nicht. Jeder Tag gleicht dem anderen und meist ist er seiner Ehefrau Maureen im Weg. Doch eines Morgens reißt ihn das Eintreffen eines Briefes aus seinem Trott. Es ist eine Nachricht einer alten Freundin. 20 Jahre lang hat Harold Queenie Hennessy weder gesprochen noch gesehen. Nun liegt sie im Sterben. Wie soll er nur darauf antworten, nach allem, was Queenie für ihn getan hat und nach all den Jahren? Als er seine ersten Schritte in Richtung Briefkasten macht, um sein Antwortschreiben einzuwerfen, ist das der Beginn einer fantastischen Reise. Denn während Harold läuft, kommt ihm die Idee, dass er genau das für Queenie tun kann: laufen. Über 600 Meilen, von Kingsbridge im Süden Englands bis nach Berwick-upon-Tweed ganz im Norden, wo Queenie in einem Hospiz ihre letzten Tage verbringt. Harold ist fest überzeugt, solange er läuft, wird Queenie leben. Sie wird auf ihn warten. Erst während seiner Reise merkt Harold, dass diese ihm weit mehr abverlangt, als nur einen Fuß vor den anderen zu setzen: sie konfrontiert ihn mit Erinnerungen. Und nicht nur mit Erinnerungen an Queenie.
Fragte man mich, wovon „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“ handelt, wüsste ich keine andere Antwort als „Vom Leben“. Verpasste Chancen, genutzte Gelegenheiten, enttäuschte Erwartungen, Liebe und Freundschaft, Schmerz, Verlust, Leidenschaft, Unausgesprochenes – um all das geht es in diesem Roman. Ich wage zu behaupten, dass sich einfach jeder in Harolds Geschichte wiederfinden kann, weil sie in ihrer Gewöhnlichkeit absolut außergewöhnlich ist. Es sind die kleinen Dinge, die ein Leben besonders machen; das Wesentliche liegt nicht an der Oberfläche, sondern steht zwischen den Zeilen. Rachel Joyce hat genau diese Eigenheit des Daseins mit erstaunlicher Klarheit herausgearbeitet und in den Mittelpunkt ihrer Erzählung gestellt. Ihre Art zu schreiben ist dabei unmissverständlich und direkt, sodass ich keine Probleme hatte, eine Verbindung zu Harold und auch seiner Frau Maureen aufzubauen, obwohl uns etwa 40 Lebensjahre trennen. Harolds Reise entfacht das Leben und die Liebe in ihnen beiden aufs Neue; Gefühle, die jahrzehntelang geschlafen haben, werden wiedererweckt. Während er läuft, verschwimmen für Harold die Grenzen von Realität und Erinnerung. Während er läuft, überwindet Maureen uralten Groll und Schmerz. Je mehr geografische Distanz zwischen ihnen liegt, desto näher kommen sie sich emotional. Joyce ließ mich hautnah an dieser Entwicklung teilhaben; es war so wunderschön, sie zu beobachten. So etwas warmherziges, sanftes, zärtliches und intimes habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Es hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, auf jeder einzelnen Seite. Ein bisschen erinnerte es mich an „Schiffbruch mit Tiger“. Vermutlich hätten Harold und Maureen es jedoch nie geschafft, die Gräben zwischen sich zu überwinden, wäre Queenie nicht gewesen. Queenie Hennessy hat schon einmal sehr viel für Harold getan und jetzt tut sie es erneut. Noch mit ihrem letzten Atemzug macht sie ihm ein unschätzbares Geschenk. Sie bringt die Liebe zwischen Harold und Maureen erneut zum Glühen und lässt sie verstehen, dass manche Momente des Lebens einfach zu groß und zu schmerzhaft sind, um sie allein zu verarbeiten. Ist das nicht schlicht bezaubernd?
Ich bin noch nicht 60, aber auch ich habe Teile meines Ichs in „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“ entdeckt. Eine Botschaft nehme ich ganz sicher daraus mit und hoffe, ich habe sie nicht vergessen, wenn ich so alt bin wie Harold. Es ist niemals zu spät, um etwas zu tun, zu sagen oder zu verändern. Es ist oft nicht das Alter, das uns aufhält, es sind unsere negativen Erfahrungen. Niemals möchte ich den Mut verlieren, einfach zu springen und etwas Verrücktes zu tun, mein Leben noch einmal völlig umkrempeln, wenn es sein muss – ganz wie Harold.
Ich empfehle dieses Buch an LeserInnen, die in der Lage sind, das Besondere im Gewöhnlichen zu erkennen. In jedem Leben steckt ein wenig Magie. Manchmal muss man nur genauer hinsehen, um sie zu finden.
Was für eine schöne Rezension. Das Buch landet direkt auf meiner Wunschliste! (:
Liebe Grüße, Anna
Als ich gesehen habe, dass deine Rezension online ist, musste ich meine auch endlich schreiben, damit ich deine lesen kann. Mir fällt auf, dass es uns bei einigen Dingen doch sehr ähnlich ging, auch wenn du das alles tausendmal schöner verpacken kannst. Es ist schon etwas lustig, dass sich manche Aussagen sogar gleichen. Da war Frau Joyce wirklich erfolgreich. Ich finde es toll, dass dir das Buch auch so gut gefallen hat und dich zu dieser wundervollen Rezension gebracht hat. Ich lese so gerne, was du schreibst und jetzt habe ich noch mehr Lust dazu, bald mal „Schiffbruch mit Tiger“ zu lesen.
Liebe Grüße! <3
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Ich glaube, ich sollte das Buch auch bald mal lesen – glücklicherweise ist es ja auch auf Deutsch erschienen.
Zu deinem letzten Abschnitt möchte ich mich kurz äußern:
Es sind nicht immer und keinesfalls nur die schechten Erfahrungen, die alte bzw. ältere Menschen daran hindern, etwas an ihrem Dasein zu verändern. Oft -und das finde ich viel bedenkenswerter – liegt es einfach daran, dass sie sich abgefunden haben. Sie sind nicht mehr neugierig und brauchen Vertraute in ihrem Umfeld, die sie immer wieder motivieren…Ich wünsche mir, dass ich solche Menschen immer um mich haben werde. Dann mache ich mir um mein Alter keine Sorgen…
Wirklich eine schöne Rezension :)
Ich fand das Buch ebenfalls schön, vielleicht ein wenig zu lang und mit ein paar Hängern zwischendrin, aber ich stimme dir voll zu, dass es in erster Linie um das „zwischen den Zeilen“ geht und um die Botschaft, die Harold uns während seines Marsches lehrt.
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